Der brüllende Zoodirektor

Von Felix Feigenwinter

Es war ein sonniger, strahlender, aber keinesfalls tropischer Tag. Ein lindes Windchen durchlüftete die Sonnenwärme. Kein Hitzestau, keine hundstägliche Bewusstseinstrübung war nachzuweisen. Die Sonne stach nicht, sie schien vielmehr freundlich und mild, verhielt sich gewissermassen mitteleuropäisch-zivilisiert.

Abgründiges, Erschreckendes hatten die vernünftigen Organisatoren schon bei der Planung des Rundgangs durch den Zoo ausgeschlossen: Die Raubtierkäfige mit der manchmal wild knurrenden und zähnefletschenden Löwin Yolanda wurden bewusst umgangen. Die Kinderschar durfte so putzige Tierchen wie Zwergziegen und Hängebauchschweine, Waschbären und Erdmännchen bewundern. Weiter ging’s zu den Pinguinen, zum Affenfelsen, und schliesslich blieb der muntere Besuchertrupp vor dem Gehege jener schmucken Steppenpferdchen stehen, die Zebras genannt werden. Die Idylle schien abgerundet zu sein.

Da meldete sich ein vielleicht siebenjähriger Knirps, der Kleinste unter den Kindern. Er hatte schon bei den Erdmännchen eifrig aufgestreckt und da wohl auch den Begriff „Aasfresser“ aufgeschnappt. Nun wollte er vom auskunftswilligen Vertreter des Zoologischen Gartens wissen: „Sind Zebras Aasfresser?“ – „Nein, Grasfresser“, belehrte der Zooangestellte, und er schilderte geduldig die Existenzbedingungen der gestreiften Vierbeiner im heimatlichen Afrika. Der Knirps wollte noch mehr erfahren: „Können Zebras schnell klettern?“ – „Klettern?“ stutzte der Zoomensch, verblüfft über die exotische Fragestellung, „die leben ja nicht im Gebirge wie zum Beispiel die Steinböcke. Sie müssen also gar nicht klettern!“ – Doch der Bub beharrte auf seiner Vorstellung: „Wie klettern sie denn das Leiterchen hoch?“ Er zeigte zum Häuschen im Gehege, wo tatsächlich eine Leiter zu einer Maueröffnung in der Höhe führte. – „Ach so, das meinst du“, begriff der Zoomensch, „die Leiter ist für die Wärter!“ – „Sind sie Aasfresser?“ fragte der Knirps ebenso stereotyp wie ernsthaft. – „Das hast du doch schon gefragt, und ich habe gesagt, die Zebras fressen Gras“, erwiderte der nun doch etwas ungeduldig gewordene Zoomensch. – „Nicht die Zebras, die Wärter meine ich“, präzisierte der Knirps. – „Die Wärter?!“ rief nun der Zoomensch einigermassen verstört, „ja Herrschaft – was essen die Wärter? Spiegelei und Rösti. Salat. Nudeln. Birchermüesli. Auch mal eine Wurst oder ein Kotelett. Nichts Besonderes, wie wir alle…“

Der Zoomensch begann sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen. „Die Fragestunde ist hiermit beendet“, verkündete er, „ich hoffe, es hat euch allen gefallen! Der Verkehrsverein offeriert nun noch jedem von euch einen kleinen Imbiss.“ Und er führte die Kinderschar ins Zoorestaurant.

Doch die Lernbegierde des Knirpses war damit noch keineswegs gestillt. Beim Birchermüesli-Schmaus liess er sich erklären, wer die Tiere wie einfängt und in den Zoo bringt. Und er wollte wissen, wo der Zoodirektor wohnt. Vielleicht im Häuschen im Zebragehege, in das der Wärter über die Leiter klettert? – „Nein, nein, in einer normalen Menschenwohnung, wie wir alle“, versicherte der Zoomensch. – „Wie sieht der Direktor aus?“ forschte der Knirps weiter. Um Missverständnisse über das Aussehen eines Zoodirektors ein für allemal zu zerstreuen (etwa phantastische Vorstellungen über ein gerüsseltes, gehörntes, gehuftes oder ähnlich märchenhaftes Wesen), fasste der Zooangestellte die günstige Gelegenheit beim Schopf und wies zur lauschigen Ecke des Zoorestaurants, wo zufällig der Zoodirektor mit seiner Gattin an festlich gedecktem Tisch sass. „Der Herr, den ihr dort mit seiner Frau seht, ist unser Zoodirektor. Ein ganz normaler Mann!“ erklärte der Angestellte mit angemessen respektvoll gedämpfter Stimme.

„Was isst der Direktor?“ war nun die nächste Erkundigung des nimmermüden Fragestellers. Darauf blieb der allzu strapazierte Zooangestellte eine Antwort schuldig. Eine unverständliche Ausrede murmelnd, flüchtete er hastig hinter die Toilettentür. Hier erst, am stillen Oertchen, platzte ihm der Kragen: „Himmelarschundschtärneaffebrunzundelefanteschyssdräggnoone-mool!“ (*) hallte seine fluchende Stimme durchs Pissoir, „eine solche Nervensäge wie dieses penetrant fragende Kind ist mir in meinem ganzen bisherigen Leben noch nie begegnet!“

Es gibt aber immer noch aufmerksames Restaurationspersonal. Die Serviertochter verriet den Kindern, was der Direktor bestellt hatte: „Rehrücken!“

Wen wundert’s, dass nun die ganze Kinderschar neugierig zur Tafel starrte, wo der Zoodirektor mit seiner Frau offenbar gerade einen Geburtstag, ein Hochzeitsjubiläum oder ein anderes festliches Ereignis feierte. Der Oberkellner schleppte ein Silbertablett herbei, auf dem tatsächlich ein köstlich garnierter Rehrücken lag.

„Ein Aasfresser!“ staunte der Knirps. In diesem Augenblick überwältigte den Zoodirektor ein behagliches Gähnen, und noch bevor er seinen breit geöffneten Mund mit vorgehaltener Handfläche diskret verdecken konnte, drang durchs offene Fenster aus dem angrenzenden Raubtiergeviert ein fürchterliches Gebrüll.

Yolanda hatte gesprochen! Für die Birchermüesli essenden Kinder freilich sah es so aus, als ob der Zoodirektor höchstpersönlich gebrüllt hätte. Und so wurde der Rehrücken speisende Direktor zum beeindruckendsten Erlebnis ihres Zoobesuchs.

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(*) baseldytsch für: Himmelarschundsternenaffenurinundelefantenscheissdrecknocheinmal

(Diese Geschichte ist am 12. August 1986 im „Nebelspalter“ erschienen)

Ein unerklärlicher Fall

Von Felix Feigenwinter

Es spreche da die Leitstelle der städtischen Verkehrsbetriebe, behauptete eine sonore Stimme durch die Tramlautsprecher; auf der Strasse zwischen Pauluskirche und Margarethenbrücke sei der Tramverkehr ab sofort wegen eines aussergewöhnlichen Vorfalls gesperrt. Der Einsatz von Extrabussen sei nicht möglich. Es werde gebeten, die betreffende Strecke entweder zu umfahren oder zu Fuss zurückzulegen; man danke für die Geduld und das Verständnis.

Die Meldung erweckte bei den Frühaufstehern weder Geduld noch Verständnis. Mürrisch ergoss sich die schläfrige Masse aus dem Tram auf die Strasse, wälzte sich über die vom hellen Osthimmel fahl erleuchtete Brücke, an deren entferntem Ende, wo eine  Baustelle war, ein riesenhaftes Sprungkissen die Fahrbahn versperrte, sich Leitern in den wolkenlosen Himmel reckten.  Über die Strasse ragte horizontal der Metallarm eines Baukrans, auf dem ein menschliches Lebewesen kauerte. Neugierige blieben stehen, spähten zur Unbekannten in der luftigen Höhe, stauten sich zu einer dunklen Ansammlung stummer Empörungsgenossen. Die Begierde zur Revolte wurde spürbar, blieb aber im Korsett jahrzehntelang eingeübten Disziplinierungsverhaltens eingeschnürt.

„Wir finden alle!“ rief nun ein zuoberst auf einer der Leitern angelangter Beamter des Polizeidepartementes zur offensichtlich verängstigten Frau.

Aber die Unbekannte befreite sich aus ihrer Kauerstellung, in der sie offenbar die Nacht verbracht hatte, und begann sich ihrer Kleidung zu entledigen. Der Rock, ein schönes blaues Tuch, flatterte zu Boden, hinterher purzelten die Schuhe. Plötzlich sprang die Frau vom Metallarm und fiel, zum Entsetzen der Gaffer, in die Tiefe, nicht aufs bereitgehaltene Sprungkissen, sondern in umgekehrter Richtung, in die endlose Weite des lichtdurchfluteten Morgenhimmels, klein und kleiner werdend bis zur Unsichtbarkeit. Wie ein entschwindender Luftballon.

„Ist heute Mariä Himmelfahrt?“ witzelte ein Schüler aus der erstarrten Menge. „Wenn man bedenkt“, sinnierte dagegen ein Herr, der sich als Betriebsökonom zu erkennen gab, „welchen Schaden ein solcher Vorfall verursachen kann… wie viele Personen nun wohl zu spät zur Arbeit kommen?“ Ein Rentner entfaltete ein sorgfältig gebügeltes Taschentuch, schnäuzte wütend hinein und murrte: „Ich habe es satt, Leute zu bewundern, die um jeden Preis originell sein wollen. Und das alles auf Kosten der Steuerzahler!“ Nur eine Serviertochter, die in einem nahen Café angestellt war, äugte immer noch zum wolkenlosen Himmel, wo die aufsteigende Sonne einen strahlenden Tag verhiess: „Es gibt noch Wunder!“

Das Gebiss

Von Felix Feigenwinter

Ich kenne keinen würdigeren Vertreter schweizerischer Arbeitsmoral als meinen ehemaligen Lehrer Valentin Stämpfli. Zielbewusst erzog er uns zum spartanischen Verzicht auf alles, was er für „unnützen Zeitvertreib“ hielt. „Unnützer Zeitvertreib“ war jede Tätigkeit,  – und selbstverständlich erst recht jedes Nichtstun – , die keinen AHV-pflichtigen Lohn erzielte. Einziger Zweck unseres Daseins war in Stämpflis Vorstellung die materielle Absicherung des späteren Rentnerlebens. So verstand er die Schule als eine Ausbildungsstätte für Generationen pflichtbewusster AHV-Beitragszahler. Nichts unterließ er, um uns Arbeitsdisziplin und Ehrfrucht vor dem Drei-Säulen-Konzept der Altersvorsorge einzutrichtern. Unter dem Motto „Vo nüt chunnt nüt!“ führte er seine gefürchteten Noten-Schriftlichen durch und überhäufte uns mit Hausaufgaben, die unsere Freizeit in anstrengende Leistungssitzungen verwandelten. „Vo nüt chunnt nüt!“ hieß für Herrn Stämpfli: unentwegtes Chrampfen bis zur Erreichung des AHV-Alters.

Aber nicht, dass Sie jetzt denken, Herr Stämpfli sei ein schmarotzerischer Heuchler gewesen, der andere zu verbissener Arbeit angehalten hätte, um sich selbst ein um so genüsslicheres Leben zu verschaffen! Nichts von alledem. Jahrzehntelang büffelte er in seiner Freizeit an seinem Lebenswerk, das er unter dem Titel „Ohne Fleiß kein Preis“ als Buch herauszugeben beabsichtigte. Da kein Verleger Interesse bekundete, gründete Stämpfli schließlich einen Selbstverlag. Wenige Tage nach der Auslieferung seiner Bücher besuchte ich den kurz vor seiner Pensionierung stehenden Lehrer in seiner Wohnung. Er saß an seinem Schreibpult zwischen den Büchertürmen und wirkte irgendwie verklärt. „Die dritte Säule meiner Altersversorgung“, erklärte er mir, indem er auf die hoch aufgeschichteten Folianten zeigte. In seinem sonst so zerquälten Antlitz bemerkte ich zum erstenmal den Anflug eines stolzen Lächelns. Die Aussicht, das Lebensziel bald erreicht zu haben, schien ihn zu entspannen. Ihn, der sich sogar in seinen langen Schulferien jegliches Ausspannen versagt hatte! Noch mussten für die Bücher allerdings Leser gefunden werden – und Buchhändler, die gewillt waren, das Werk unter die Leute zu bringen…

Eine Woche nach meinem Besuch in Stämpflis bücherverstelltem Heim kippte einer der Türme. Nicht dass die Bücher Herrn Stämpfli erschlagen hätten, aber der Schreck über den Einsturz der dritten Säule brachte sein angegriffenes Herz offenbar zum Stillstand. So fand er doch noch seine Ruhe, wenngleich anders als lebenslang geplant.

An Stämpflis Beerdigung begegnete ich mehreren früheren Schulkameraden. Mit pflicht- und fleißzerfurchten Gesichtern stämpflischer Prägung umstanden sie das Grab des verehrten Lehrers. Die einzig lockere Gestalt an dieser Beerdigung war Fridolin;  er hatte sich kaum verändert. Als wir uns einst in Stämpflis Klassenzimmer über unsere Grammatikschriftlichen beugten, lehnte sich Fridolin lässig zurück und zeichnete Vögel: Tauben, Schwäne und Störche. Das war seine Spezialität – und das einzige, was er in der Schule wirklich konnte: Vögel zeichnen. Fridolin hat nie eine Abschlussprüfung bestanden, beendete somit auch nie eine Berufslehre, und aus der Rekrutenschule kehrte er – wen wundert’s! – bereits nach drei Wochen zurück. Er wurde „miltitärdienstuntauglich“  erklärt. Auch die Arbeitsstellen, die er von Zeit zu Zeit antrat, verließ er bald unverrichteter Dinge.

Später traf ich ihn einmal sonntags im Zoologischen Garten, wohin ich mit meiner Frau und  den Kindern spaziert war. Fridolin saß auf einer Bank und zeichnete Störche. Nach einigem Zögern kaufte ich ihm ein Bild ab. Er gestand mir, dass er davon leben müsse. Ein anderes Einkommen habe er nicht.

Einige Jahre danach berichtete mir meine Frau, als ich abends vom Büro nach Hause kam, sie habe Fridolin in der Stadt getroffen. Es gehe ihm jetzt gut, er beziehe eine Invalidenrente, und im Rahmen der Ergänzungsleistungen seien ihm für mehrere tausend Franken die Zähne saniert worden. Auch kleide er sich jetzt gepflegter als früher, und er mache sich bei Frauen beliebt. Jedenfalls werde er häufig von Damen zum Essen eingeladen, wie er ihr anvertraute. Anders als die Männer, die während neun Stunden täglich im Büro sitzen, habe er nun eben viel Zeit, in Cafés zu flirten. Er wisse stets drollige Geschichten zu erzählen. Dem Bericht meiner Frau musste ich entnehmen, dass sich Fridolin vom Clochard zum Gigolo entwickelt hatte.

Gestern nun, als ich auf meinem Velo zur Arbeit fuhr, habe ich ihn selber gesehen. Vor dem Rotlicht, wo ich mein Zweirad abstoppte, hielt neben mir ein schnittiger Sportwagen. Der Mann, der die Autoscheibe herunterkurbelte, um mich grinsend zu grüßen, war Fridolin. Neben ihm saß eine junge Dame am Steuer, die ich als „sehr gut aussehend“ bezeichnen möchte. Sie schien auch sonst nett zu sein; jedenfalls lächelte sie mir freundlich zu. „Brigitte, meine Braut“, stellte sie mir Fridolin vor, der übrigens tatsächlich in eleganten Kleidern steckte. „Übermorgen fliegen wir in die  Flitterwochen!“ Sie werden verstehen, dass ich einigermaßen verdattert war! „Wie verdient man solches Glück?“ konnte ich nur noch stottern. Fridolin lehnte sich zurück, bleckte vergnügt sein makelloses Gebiss: „Vo nüt chunnt nüt!“ Dann  wechselte das Ampellicht auf Grün, und das glückliche Paar brauste fröhlich winkend davon.

(Erschienen in der „Ciba-Geigy-Zeitung“ am 4.Febr.1986)

Ende einer Laufbahn

Von Felix Feigenwinter

Auf der alljährlich wiederkehrenden Herbstmesse, die zum Basler Herbst gehört wie die fallenden Blätter in den Parkanlagen und der kühle Rheinnebel, steigen in mir Erinnerungen auf an jene Zeiten, als ich in der Vorstellung, später irgendwann Schriftsteller-Lorbeeren einheimsen zu können, in beinahe unaufhaltsamer schöpferischer Produktionswut an einem Roman schrieb. Und daran, wie ich von dieser Illusion gnädig geheilt wurde – in einer Herbstnacht Mitte der Sechzigerjahre.

Am frühen Nachmittag zuvor hatte ich auf der Herbstmesse einen um mehrere Jahre reiferen Literaturfreund getroffen, dem ich mein großes Glück anvertraute: Nämlich, dass ich den Roman, an dem ich seit etlichen Jahren Tag und Nacht  arbeitete, endlich beendigt hätte; er läge druckreif auf meiner Bude, bereit, an einen Verlag verschickt zu werden. Der Literaturfreund zeigte sich sehr  interessiert,  er wollte das Produkt meines bisher verkannten Fleißes kritisch begutachten,  und wir vereinbarten, uns in der damals noch vorhandenen Weinstube Hunziker am Spalenberg zu treffen. Da erschien ich ein wenig später mit den dreihundert Schreibmaschinenseiten Roman unterm Arm – mein Bekannter saß bereits vor einem Liter Roten, und wir begannen zu lesen: Seite für Seite, zuerst er, dann ich, manchmal auch zu zweit dieselbe Seite. Dazu tranken wir Wein, erstaunliche Mengen Magdalener.

Der Abend brach herein. Und mit ihm ein angeheiterter Kunstmaler, der Heimweh-Ungar Janossy, der sich zu uns setzte, mittrank und,  in seiner bekannten Art,  die im Lokal befindlichen Gäste zu zeichnen begann; die Skizzen verteilte er den Porträtierten. So ging das stundenlang, bis wir um Mitternacht unserem Malerfreund „Lebtwohl!“ zuriefen und in die kalte Herbstnacht tauchten.

Erst auf dem Petersplatz, zwischen den vermummten Messebuden, beschlich mich das helle Entsetzen: wo war mein Roman?! Zu zweit untersuchten wir den Weg zurück bis zum Spalenberg,  in der verschwommenen Vorstellung, das Dreihundertseitenwerk sei unterwegs auf die Strasse gefallen. Nun wimmelte es zwar von Papieren auf dem nächtlichen Boden: von weggeworfenen Kastanien- und Magenbrot-Tüten, Zigarettenpäcklein und Papiertaschentüchern, Trambillets und leeren Zündholzbriefchen. Der Roman war nicht darunter.

Am Morgen stand ich, ein banger Hoffender, vor der Tür der Weinstube –  der erste Gast! Erfolglos…

Mir dämmerte: Die Porträts! Unser Malerfreund, der gutmütige Janossy aus Budapest, der so leicht in Tränen ausbrach, hatte die Porträts, die er in seinem Bescherungsrausch fortlaufend an die weinseligen Gäste verteilte, auf die Rückseiten meiner dreihundert Schreibmaschinenblätter gezeichnet! Weder Täter noch Opfer waren Zeuge dieser Orgie gewesen, ganz zu schweigen von den übrigen Betrunkenen.

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(Diese Geschichte wurde im Jahr 1978 in der Sammlung „Merkwürdige Geschichten aus Basel“ im Mond-Buch Verlag Basel veröffentlicht und ist am 8. Oktober 1985 auch im „Nebelspalter“ erschienen)

Ottokars Flucht

Von Felix Feigenwinter

I

Früher, als Ottokar noch Meerschweinchenzucht betrieben hatte im elterlichen Garten: die Tierchen, in der Kleinkinderschule gegen Vaters Militärmesser eingetauscht, im Komposthaufen sich königlich vermehrten, in Einerkolonne an Löwenzahn vorbei den väterlichen Salatbeeten zustrebten, wo sie für Stunden weidend verweilten, hatte er Vater wie Mutter an den Rand der Verzweiflung getrieben mit seinem Wunsch, Sträfling zu werden, was der Vater, Steuerbeamter in der siebzehnten Besoldungsklasse, empörend fand. Eine Beamtenlaufbahn war Ottokar als trüber Lebensinhalt erschienen, vorzeitige Pensionierung, Einteilung in höhere Besoldungsklassen: die häufigsten Gesprächsthemen am Familientisch, ausweglose Aussichten. In Sträflingen hingegen mussten ungeahnte Möglichkeiten schlummern: Sie lösten Furcht aus! Die Mutter hatte den Umgang mit ihnen verboten, wenn sie nach getaner Arbeit unter der Aufsicht eines blaubehosten Wärters sich stärkten in der Nähe des elterlichen Hauses; sie hegten Fluchtgedanken, hofften auf Erlösung, kämpften für Freiheit, dachte Ottokar. Ein kämpfender Beamter hingegen war absurd, ebenso Vater auf der Flucht: der marschierte nur immer aufs Steueramt mit seiner kargen Miene, gehorsam um halb acht und mittags um halb zwei, trug keine Fluchtgedanken mit sich herum, überhaupt keine Gedanken vielleicht, ewig dasselbe trostlose Gesicht vielmehr. Manchmal begleitete ihn Ottokar auf halbem Weg, stumm, denn Vater war ein wortkarger Mann; ein tapferer, hatte die Grossmutter gesagt.

Als einmal müder Nebel über die Wiesen kroch, die Fabrikkamine in fahler Watte dahinsickerten, zog Ottokar einen Leiterwagen neben Vater her, setzte sich darein auf abfallender Strasse: glaubte, Vater würde hinten halten; sah sich um, suchte vergeblich nach Vater. Der hatte eine Abkürzung eingeschlagen, schweigsam einen Fussweg betreten, hatte nicht gemerkt, dass Ottokar gegen eine verkehrsreiche Strasse raste, Trams und Autos vorbeiflitzten. Ottokar sah mit zunehmender Deutlichkeit, dass er in wenigen Augenblicken krachend den Verkehrsstrom unterbrechen würde (einbiegen, sich eingliedern war unmöglich bei der Geschwindigkeit, den Leiterwagen würde es überschlagen in der Kurve). Ottokar griff an die Hinterräder, spritzte Hautfetzen an die scheuernden Speichen und Fingerblut, steuerte auf den Gehsteig zu. Der Wagen schmetterte gegen eine Verkehrsstange, der Kleinkinderkörper auf den Asphalt. Die Gefahr indessen war gebannt, wenige Meter vor der Einbiegung unterbrochen die drohende Fahrt. Der Vater stand ärgerlich unten, sagte, wo bleibst du so lange nur, schalt wegen der zerschlissenen Hose.

Des kleinen Ottokars Sträflinge aber erschienen frühmorgens Sensen wetzend auf Herrn Peters Wiesen, weckten Grashalme niederratschend späte Schläfer, fällten Mattenstücke in der zunehmenden Sonnensenge, scheuchten Schmetterlinge auf und Heuschrecken, schlugen Grillen zur Flucht, tranken kühlenden Most unter wehendem Laub und verschwanden aus der brodelnden Sommerglut in ihrem beschatteten Kantonsgefängnis, weite Graswüsten hinterlassend auf den Parzellen Herrn Peters, dem eine Zementfabrik gehörte, eine ausgedehnte Gärtnerei überdies, die ewige Frühmorgenstimmung ausbreitete mit ihren gläsernen Treibhäusern, ein umfangreicher Sportplatz sodann, worauf Glieder eines städtischen Turnvereins geduldet wurden an bestimmten Wochenabenden, im übrigen jedoch Herr Peter persönlich Stabhochsprung übte. Wenn Dieti, Herrn Peters Sohn, mit spitzem Stab heraustrat in die Dämmerung, bog Herr Peter selbst bald in schwarzem Trikot aus dem Gartentor, unternahm Laufen an Ort mit anschließendem Blitzstart und Spurt über kurze Distanz als vorbereitende Maßnahme, ergriff den Stab vor den ehrfürchtigen Zuschauern: Beamten und Arbeitern aus dem Quartier, setzte mehrmals zum Sprung an, bevor er den zierlichen Körper endgültig hinaufschwang in die laue Abendluft, riss, wie immer, die Latte in die sandige Tiefe; entschwand der dankbar applaudierenden Menge mit federndem Schritt und stolz erhobenen Hauptes. Ottokar hatte die unvermögenden Schritte stets als peinlich empfunden, Hohngelächter befürchtet: das hätte sich schlimm ausgewirkt angesichts Herrn Peters göttlicher Stellung im Quartier; doch die Leute fanden lobende und bewundernde Worte, die Sprünge trotz der sirrend stürzenden Latte beachtlich für sein Alter.

Bezeichnend war Herrn Peters Jagdhund sodann: Flippimänni, ein krummbeiniger Dackel mit spitzbübischem Aussehen, der hin und wieder in Ottokars Garten sich verirrte, an einem Meerschweinchen sich vergriff, hauptsächlich aber Herrn Peters Weidenstauden am Bachufer überwachte, einen Frevler aufspürte eines Sonntagmorgens, einen Insassen des städtischen Altersheimes, den Dieti, Herrn Peters Sohn, aus dem Quartier verjagte, ihm weitere Aufenthalte in der Gegend verunmöglichte: Kleinkinderschüler auf ihn hetzte, die im Chor Weidenstehler Weidenstehler brüllten. Herr Peter jagte auch Ratten, die am Bachufer nisteten, verstand sich aber schlecht aufs Schiessen: oft entwischten die Tiere unversehrt oder mit Streifschüssen im Geäst; selten nur klatschten sie getroffen ins Wasser und hüllten sich in dumpfe Wolken. Später verschwanden die mähenden Sträflinge von den Wiesen: sie übten sich im Korbflechten, und Ottokars frühe Zukunftspläne zerschlugen sich angesichts neuer, verwirrender Ereignisse.

II

Die Flucht auf den Münsterturm hatte Ottokars Existenz am Humanistischen Gymnasium bedroht: der Lateinlehrer hatte Manneszucht bemängelt, was Ottokar kalt ließ, da er noch ein Binggis war in der zweiten Gymnasialklasse und kein Mann, gar keiner sein wollte, noch nicht; Ausschluss aus der Schule ließ sich immerhin vermeiden, wäre auch peinlich gewesen: der Jugendpsychiater hatte ein Wort mitgeredet, hatte Ottokar zugezwinkert in jenem farbigen Sprechzimmer mit den Kinderzeichnungen, überhaupt sehr vertraulich getan: das lässt sich schon einrenken. Die Strafklasse nahm Ottokar gern in Kauf, auch die schlechte Note im Latein, nur den Vater bemitleidete er, der fand es beschämend, und die Mutter, die weinte, grundlos, denn sechs Jahre später bestand Ottokar eine glänzende Matura: rechtfertigte, desavouierte. Nachträglich erschien Ottokar die Flucht ohnehin begründet, durchaus notwendig, vernünftig auch, der Münsterturm der naheliegendste Ausweg aus dem Dilemma: thronte der doch gerade neben dem Schulgebäude; Ottokar trieb es einfach hinauf; er schaffte damit Demütigungen, lästige Erklärungen aus dem Weg: er hatte nichts gelernt, keine Verben, keine Deklinationen repetiert, geschweige denn Konjugationen, hatte in der Zehn-Uhr-Pause erst erfahren vom drohenden Unheil; der Lateinlehrer Fides musste die Schriftliche schon vor vier Tagen angekündigt haben. Ottokar sah den roten Sandstein glimmen in der Morgensonne, lauerte auf die passende Gelegenheit: eine Unaufmerksamkeit des beaufsichtigenden Lehrers, der hatte auch nur zwei Augen; im günstigen Augenblick fixierten sie einen erhitzten Bubenknäuel. Da hieß es einschreiten: energisch, autoritär, die alten Griechen und Römer hatten auch gekämpft, liessen aber Manneszucht walten, achteten edle Beweggründe, jene Rauferei entbehrte humanistischer Grundsätze, nahm pöbelhafte Formen an: entehrte den würdigen Schulhof. Ottokar wusste das zu nutzen: entwich feixend durch das Tor, stieg in den mächtigen Turm ein, erkletterte den muffigen Schacht auf knarrenden Holztreppen, die befreiende Höhe auf Sandsteinstufen: ausgetretenen, verwitterten, war Herr über die Situation jetzt: konnte dem Polizeiwachtmeister, der dort untern untätig herumstand, ungesehen auf den Helm spucken beispielsweise, sogar pinkeln, wenn er wollte, sah auf dem entfernten Marktplatz Hausfrauen Kohlköpfe aussuchen, die grünen Schürzen der Marktfrauen blinkten in der Sonne, schweifte über Hinterhöfe und Hausdachspitzen, beobachtete Sekretärinnen, die klatschten statt schrieben, Süssigkeiten verzehrten zwischen den Diktaten; stand mit dem lieben Gott auf du und du, lenkte sein allmächtiges Auge steil hinunter, zum Fenster seines Klassenzimmers: sah den Lateinlehrer Fides zwischen den Bänken amten, humanistische Blicke um sich werfen;  bemerkte einen Schüler, sein Vordermann sonst, unter die Bank schielen, wo das Lateinbuch offen dalag: Fides konnte es nicht entgangen sein, sonst war er dumm; er unternahm aber nichts: der war eben Primus, sah erneut unter die Bank: ungestraft; Fides hatte einen gnädigen Tag offenbar, war freundlich gesinnt, trotz der Schriftlichen.

III

Nach bestandener Matur schien Ottokar die Welt zu Füssen zu liegen: der Weg zum Erfolg ist jetzt geebnet, hatte der Vater gesagt. Noch stand die Rekrutenschule bevor, viele Wochen Ertüchtigungsübungen im Kantonnement, auf dem Kasernenhof und im Gelände, im Wald und auf der Wiese –  das formt dich zu einem richtigen Mann, hatte der Vater gesagt, zu einem richtigen Mann! Ottokar war wild entschlossen, hörte gut auf seinen Korporal und seine Offiziere  – er hörte sie vom Feind sprechen (nein, brüllen!), ständig vom Feind; obwohl Ottokar alle Menschen liebte wie sich selbst. Doch das war jetzt vorbei, da war er noch ein Kind gewesen; jetzt wurde aus ihm ein Mann, ein richtiger Mann.

Der Oberleutnant stand vor ihm, er hatte Züge von seinem Vater, nur war er forscher, vitaler; auch viel jünger, ein dynamischer junger Mann, das konnte man wohl behaupten. Der Oberleutnant schrie ihn an, ihn, dem Sanftmut oberstes Gesetz war; ihn, dessen wackere Meerschweinchen in seinem Garten geweidet hatten. Eines hatte er „Schneewittchen“ getauft. An einem kühlen Frühlingsmorgen hatte er sein weißes Fell gefunden, auf einem Kiesweg des Gartens, mit einer dünnen Blutspur am Kopf. Ein Marder hatte es sauber ausgehöhlt. Diese Raubtiere waren oft des Nachts im Garten zu Besuch. Immer wenn Ottokar ein gellendes Pfeifen vernahm, das die nächtliche Stille durchschnitt, in sein Schlafzimmer drang, wusste er: am Morgen würde wieder eines seiner Lieblinge fehlen.

„Rekrut Ottokar, wie haben Sie Ihren Helm angezogen?! Ihr Helm sitzt ja verkehrt auf Ihrem Kopf! Das gibt es doch nicht! Geschirren Sie sich anständig an! Aber ein bisschen schnell!! Zehnmal Liegestütz, hopp, los, eins-zwei… und jetzt kriechen, hopp, los, tiefer in den Dreck, kriechen, kriechen, schneller, schneller! Nicht träumen, los, kriechen…!“

Ottokar kroch, kroch, kroch. Als er sich endlich erhoben hatte, atemlos, gedemütigt, hörte er den Oberleutnant rufen:

„Los, nochmal, kriechen! Wart, ich will Ihnen schon Beine machen …. hopp, los, Sie Arsch…“

Ottokar war jetzt ganz ruhig, so ruhig wie damals, als er auf den Münsterturm gestiegen war. Er sah dem schreienden Oberleutnant ins Gesicht, er sah ein Monstrum mit Helm, dann sagte er ganz ruhig, geradezu sanft:

„Sie sind mein Feind.“

Der friedfertige Ottokar zielte gut mit seinem Sturmgewehr.

***

„Das hätten Sie doch viel einfacher haben können“, meinte später sein Verteidiger vor der Gerichtsverhandlung, „wenn Sie den Militärdienst verweigert hätten, hätte man Sie nur ein paar Monate eingesperrt und Sie müssten nicht jahrelang im Zuchthaus verbringen.“

Doch Ottokar beharrte darauf; der begrabene Oberleutnant war sein Feind gewesen, da war nichts zu machen. Und als das Gerichtsurteil ausgesprochen war: Lebenslänglich, da verklärte sich Ottokars Gesicht. Mit einem Lächeln, das tiefste Befriedigung auszudrücken schien, verließ er den Gerichtssaal.

——

(Dieser Text wurde im Jahr 1978  in der Sammlung  „Merkwürdige Geschichten aus Basel“  im Mond-Buch Verlag Basel veröffentlicht.)

Die Stimme

Von Felix Feigenwinter

Als gesundheitlich angeschlagener Rentner verkrieche ich mich abends normalerweise vor dem Eindunkeln in meine Wohnung, und tagsüber meide ich grössere Menschenansammlungen. Meine Geh- und Sehbehinderung zwingt mich zur Vorsicht. Aber der Jahrmarkt im Herbst fordert mich heraus – da wage ich mehr als gewöhnlich; der Rummelplatz weckt Jugenderinnerungen und Sehnsüchte.

Da stehe ich nun, berauscht von einer verführerischen Stimme, die fürsorgliche Anteilnahme verströmt und das Abenteuer der Fahrt mit der Himmel-und-Hölle-Bahn warmherzig und voller Humor und Phantasie anpreist.

Die Erfüllung dieses Abenteuers versage ich mir: Allein schon der Gang zum Kassenhäuschen durchs Gedränge der hier wimmelnden Jahrmarktsbesucher erscheint riskant, und der Aufstieg auf einer für mich nur verschwommen erkennbaren Treppe zur unübersichtlichen Plattform, von wo aus zur Himmel-und-Hölle-Fahrt gestartet wird, birgt wohl erst recht Tücken – ein Wagnis, das auf mich zu nehmen ich als unnötig erachte, versetzt mich doch die  Stimme in einen vollends glücklichen und schwebenden Zustand, der keiner weiteren Steigerung bedarf. Die Stimme kann ich geschützt in meiner Nische neben einer Würstchenbude ohnehin besser geniessen als auf der sausenden Fahrt hinauf in den Himmel und hinunter zur Hölle, eingepfercht in einer windigen Kabine.

Für meine Verhältnisse spät in der Nacht verdrücke ich mich taumelnd nach Hause. Wie ich die folgenden Stunden verbringe, die Nacht durchlebe, den nächsten Morgen überstehe? Ich schwanke zwischen Himmel und Hölle, schwelge vorerst im Glück der Erinnerung an die Stimme, doch zunehmend ergreift mich ein schmerzliches süchtiges Sehnen, bis ich am nächsten Nachmittag erneut zum Rummelplatz strebe, gierig bereit, der berauschenden Stimme zu lauschen. Von wo aus nur spricht die Begnadete, sendet sie ihre ergötzlichen Worte in den Herbst und zu mir, streut sie ihre Rede unters Jahrmarktsvolk? Um es herauszufinden, verlasse ich meine Horch-Nische bei der Würstchenbude und schleiche nun doch ganz nah zum Kassenhäuschen, wo sich eine Schlange unternehmungsfroher Himmel-und-Hölle-Besucher gebildet hat. Durch eine Sichtscheibe starre ich ins Häuschen und sehe nur eine Frau, die Billete verkauft, keine Verzauberin. Ich forsche weiter und eruiere über der Plattform ein weiteres Häuschen – hier drin vermute ich sie; meine Sehschwäche erlaubt keine genaue Erkundung…

Dann plötzlich verstummt die Zauberstimme, und da ich immer noch unverwandt zum hohen Häuschen spähe, wähne ich zu sehen, wie dort eine nebulöse weibliche Gestalt erscheint, die, ihren Mantel zuknöpfend, aus dem Eingang tritt, die Tür schliesst und sich anschickt, auf der Leiter zur Plattform hinunter zu steigen, von wo aus sie, deutlicher erkennbar, auf einer Treppe direkt auf mich zukommt. Ganz nah geht sie an mir vorbei, mustert mich, den ihr Unbekannten, mit intensiv fragendem Blick, wie mir scheint, und mischt sich dann unters Jahrmarktspublikum, das sie mit ihrer klingenden Stimme eben noch bezirzt hat. Das ist sie, die Verzauberin – keine gewöhnliche Jahrmarktsfrau; ich sehe eine selten aparte Dame, eine menschliche Göttin, vielleicht eine ausgebildete Schauspielerin, die vom Besitzer der Himmel-und-Hölle-Bahn als Sprecherin engagiert wurde…

Zutiefst bewegt bemühe ich mich, die Kostbare, die sich mir endlich zeigt, nicht aus meinen getrübten Augen zu verlieren – was schwierig ist in der Menschenmenge, durch die sie nun schreitet, quer über den Rummelplatz Richtung Einkaufsstrasse, die zum Stadtzentrum führt. Die Abendsonne blendet mich; sie hängt tief im Westen hinter der Stadt und durchflutet mit ihren Strahlen die Einkaufsstrasse. In ihrem Feuerglanz verschwindet die Zauberin.

Am nächsten Tag ist auch der Jahrmarkt verschwunden. Auf dem vom Rummel entleerten Platz stehen Lastwagen mit den zusammengeklappten Bestandteilen der Himmel-und Hölle-Bahn, bereit zur Abfahrt zum nächsten Jahrmarkt in einer mir unbekannten Stadt. Der Platz hat den Zauber verloren.

Das Suchtmittel wurde mir entzogen; meine Sehn-Sucht bleibt ungestillt.

Tellenbachs Sturz

Von Felix Feigenwinter

Die lähmende Hitze des samstäglichen Julinachmittags mag dazu beigetragen haben, dass der schreckliche, ja skandalöse Vorfall nur wenige Hausbesucher und Nachbarn entsetzte. Auf dem Balkon des zweiten Stockwerks döste seit gut zwei Stunden der stellvertretende Abteilungsleiter des Erbschaftsamtes Sepp Winkelried. Seine Gattin, eine gebürtige Ausländerin, nannte ihn „José“, manchmal spasseshalber auch „Giuseppe“; seine betagte Mutter redete immer vom „Seppli“, wenn sie ihn meinte, Parteifreunde sagten „Sepp“ zu ihn, Arbeitskollegen „Joe“. Nur der alte Tellenbach hatte ihn unbeirrt mit „Josef“ angesprochen. Im Telefonbuch war er jahrelang unter „Winkelried Josef“ zu finden gewesen, seit kurzem war die Telefonnummer hinter „Winkelried Sepp“ eingetragen, auf Anregung eines Parteifreundes übrigens, der als Werbefachmann wirkte und den kräftigeren und volkstümlicheren Namen Sepp dem ernsthafteren, doch wie er fand, faderen „Josef“ vorzog.

Sepp, José, Giuseppe, Seppli, Joe und Josef Winkelried lag auf einer zusamenklappbaren Liege, versteckt hinter farbigen Vorhängen, welche die Sicht vom Garten und aus den Fenstern der umliegenden Häuser angenehm behinderten, wenn nicht gerade ein Windstoss die von Frau Winkelried phantasievoll aufgehängten Geländerverkleidungen fast unanständig aufblähte.

Winkelried fühlte sich geborgen unter dem Sonnenschirm und hinter den bunten Tüchern, die ihm wie wunderbare Frauenröcke vorkamen, unter denen er sich versteckt hielt, und er hoffte, an diesem geruhsamen Nachmittag seine Magenschmerzen dank Entspannung, kühlem Kamillentee und Vanillejoghurt auskurieren zu können, denn es standen strube Zeiten bevor. Die Herausforderungen im Erbschaftsamt, wo er hauptberuflich tätig war, verlangten jeden Werktag von morgens früh bis abends spät seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Begünstigt durch die bevorstehende Frühpensionierung des gegenwärtigen Amtsinhabers schien seine Beförderung zum Abteilungsleiter nicht mehr aufzuhalten zu sein. Dazu hatte er sich auf der Liste seiner Partei für die kantonalen Parlamentswahlen aufstellen lassen, und er hatte sogar Chancen, gewählt zu werden, so dass er sich im Wahlkampf entsprechend engagieren müsste, was schon nach den Sommerferien beginnen und bis in den Spätherbst hinein dauern würde, mit wochenlangem Einsatz in der Freizeit, mit Auftritten an abendlichen Wahlveranstaltungen und an freien Samstagen hinter Parteiständen auf der Strasse.

Irgendwann musste er eingeschlummert und irgendwann wieder aufgewacht sein. Ein sonderbarer Traum beunruhigte ihn. Wäre nicht Wilma, seine Frau, auf dem Balkon erschienen, um ihr Bikini und ein Frottiertuch an den Wäscheständer zu hängen, wäre es ihm schwergefallen, sich zu orientieren, so unauffällig schienen an diesem fiebrigen Sommertag Traum und Wirklichkeit ineinander überzugehen. Winkelried spürte das Bedürfnis, den Traum mitzuteilen, und er bat Wilma, sich zu ihm zu setzen, damit er ihn erzählen könne.

„Mein lieber José“, sagte Wilma, nachdem sie seinen unglaublichen Schilderungen gelauscht hatte, „das ist aber schlimm! Siehst du in mir wirklich eine solch böse Hexe?!“ Wilma sprach seinen Namen immer französisch aus, wenn sie ihn „José“ nannte, elegant und sanft mit dem weichen „Sch“ zu Beginn des Wortes (nicht spanisch mit dem strengen „Ch“). Sepp alias José Winkelried wiegte sich in Wilmas verbalem Charme, der ihm ungeahnte Horizonte eröffnet hatte, weil er seine anerzogene, vielleicht auch angeborene Schwerfälligkeit im Umgang mit Gedanken, Gegenständen und Menschen auflockerte, ihn befähigte, das Leben etwas leichter, spielerischer zu bewältigen. Sicher hatte Wilma damit, ohne es vielleicht zu wissen, den Weg zu seiner beruflichen und politischen Laufbahn geebnet.

Schon bereute José, seine Gattin mit der Erzählung des beklemmenden Traums irritiert zu haben. Er versuchte, ihn reflektierend zu relativieren, ihn nachträglich eher komisch als dämonisch zu interpretieren. Aber ein ungehöriges Rumpeln, vermischt mit einem kurzen, unterdrückten menschlichen Schrei schreckte das Ehepaar aus dem Gespräch. Fast gleichzeitig durchdrang das Geräusch eines dumpfen Aufpralls den schläfrigen Nachmittag.

Während José etwas verdutzt auf seiner Liege ausgestreckt blieb, sprang Wilma sofort auf. Sie beugte sich über das Balkongeländer und erblickte den nur mit einem Hemd bekleideten Wilhelm Tellenbach, den Hausbesitzer aus der Dachwohnung. Er lag gekrümmt auf den einst von ihm selbst gelegten Steinplatten im Garten, offensichtlich leblos. Mauerstücke und Geländerteile, die offenbar von der Dachterrasse herausgebrochen waren, umlagerten die auch im Tod noch markante Gestalt, teils auf den Platten, teils im Rasen verstreut. Die Rosenstauden entlang dem Gartenweg schienen vom Toten, als er noch lebte, genau für diese Szenerie gepflanzt und gehegt worden zu sein (Wilma verscheuchte den unheimlichen Gedanken, der sie angesichts der makaberen Idylle aus der Balkonperspektive beschlich), aber die drei Birken und der Ahorn, dessen Krone Tellenbachs Haus seit Jahren bei weitem überragte, schienen vom Unglück nicht betroffen, obwohl die Bäume, so schien es Wilma, auch gut in einen Friedhof gepasst hätten. Ihr kleiner Sohn hatte den Sturz glücklicherweise nicht mitbekommen; Frau Braun, die Bewohnerin aus der ersten Etage, hatte das Kind zusammen mit ihrer kleinen Tochter ins Schwimmbad mitgenommen. Aber jetzt sah Wilma sie zurückkehren: sie näherten sich dem Haus von der Strasse her; das muntere Kindergeplauder war schon deutlich zu hören. Normalerweise hätte Wilma gerufen und gewinkt, aber nun liess sie es bleiben, um die Aufmerksamkeit der Kinder nicht auf den Toten zu lenken. Der Anblick des verunfallten Alten im Garten, unweit vom Sandkasten, wo die Kinder oft spielten, hätte ihren Sohn fürs Leben traumatisieren können, stellte sie sich vor, und sie hetzte durch die Wohnung, durchs Treppenhaus, hinunter vors Haus, um die ahnungslosen Heimkehrenden abzufangen, sie auf den Schrecken vorzubereiten.

Auf dem Balkon hatte sich inzwischen auch Sepp Winkellried erhoben. Er fühlte sich schwindlig und stützte sich aufs Balkongeländer. Ungläubig starrte er in den Garten, unschlüssig, ob er seine Wahrnehmung für Wirklichkeit halten sollte.

Allmählich begriff er, dass er einen wirklichen Toten betrachtete.

Angesichts des aus dem Dachstock Gestürzten beschlichen ihn zwiespältige Gefühle. Da lag der Hausbesitzer und Wohnungsvermieter, aber er war gleichzeitig der erste – geschiedene – Ehemann seiner Frau Wilma (die Ehe dauerte etwa vier Wochen, dann flüchtete Wilma in seine, Sepp Winkelrieds, Arme, doch der alte Tellenbach lockte das Paar zurück in sein Haus…); Tellenbach war Trauzeuge und Ehrengast an ihrer Hochzeit und, das Bedrückendste von allem, der leibliche Vater seines, Josef Winkelrieds, Sohnes!

Winkelried versuchte Tellenbachs Schatten aufzuhellen. Ueberrascht fühlte er Heiterkeit  in sich aufsteigen beim Gedanken, dass der in seiner Jugend wegen Totschlags verurteilte Schwerenöter nun selbst durch einen gewaltsamen Tod gefällt worden war.

Die Ironie des Schicksals empfand Winkelried als wohltuend, sie entprach seiner Vorstellung von Logik, von Gerechtigkeit.

*

Niemand im Haus schien daran zu zweifeln, dass Tellenbach Opfer eines (wie Josef Winkelried es ausdrückte: für ihn typischen) Unfalls gewesen sei. Nur der käsige alte Mann, der stundenlang  im Garten und überall im Haus herumschnüffelte, schien dieser Erklärung zu misstrauen. Unterstützt von einem technischen Fahndungsteam inspizierte er den hintersten Winkel der Liegenschaft, auch den Laden im Parterre, wo früher der Bestattungsunternehmer Tellenbach seine Särge ausstellte und heute ein Antiquitäten- und Kuriositätenhändler Samoware, Barockengel und Wilhelm-Tell-Denkmäler en miniature anbot. Und er plauderte mit allen Hausbewohnern, sogar mit den beiden kleinen Kindern, auch  mit einigen Nachbarn.

Der für einen Kriminalkommissar ziemlich abgetakelt, ja wackelig wirkende Kettenraucher, der sich übrigens als „Detektiv Borer“ vorstellte und allen, mit denen er sprach, einen Ausweis mit Foto hinstreckte, interessierte sich unter anderem für das frühere Leben des Toten, und dieses war nun weiss Gott ungewöhnlich genug. In seinen Notizblock kritzelte der alte Fahnder Beobachtungen und Recherchen mit auffallend zittriger, nervöser Schrift, die vermutlich nur er selber entziffern konnte. Der Studie über Tellenbach schien der Detektiv weit mehr Gewicht beizumessen als der unmittelbaren Suche nach einem mutmasslichen Mörder, die Borers hartnäckige Ermittlungen doch eigentlich erst hätten sinnvoll erscheinen lassen, wie Winkelried kopfschüttelnd kritisierte. Aber Borer, ein ungemütlich undurchsichtiger Mensch, wie Wilma und Josef Winkelried gleichermassen fanden, deutete an, dass auch die Möglichkeit eines Selbstmordes sorgfältig geprüft werden müsse; bei einem Mann, der früher einen Menschen getötet habe, was aktenkundig sei, sei ein aussergewöhnliches Aggressionspotential anzunehmen. Winkelried misstraute auch dieser Aeusserung; er witterte irgendwelche psychologische Ablenkungsmanöver des Berufsschnüfflers, traute ihm perfide taktische Spielchen zu, die er in diesem Fall für ärgerlich, weil unnötig hielt, denn für ihn war klar: Tellenbach war verunfallt, durch einen unglücklichen Einbruch des morschen Gemäuers und Terrassengeländers zu Tode gestürzt. Da gab es keinen Täter zu suchen – der einzige Mörder im Haus war tot…

Josef Winkelried nervte die ganze Angelegenheit, dieser Aufstand, als er sich zu erholen hoffte, und die seither nicht ruhenden Untersuchungen und Befragungen durch den gelbfingrigen Fahnder, der im Haus Tabakgestank und Zigarettenstummel hinterliess wie ein Hund seine Duftmarken. All das schädige sein Image, befürchtete Winkelried, auf das er nun doch besonders angewiesen war vor den Parlamentswahlen und auch im Hinblick auf die erhoffte Beförderung zum Abteilungsleiter, ein Meilenstein in seiner beruflichen Laufbahn; zudem beeinträchtigte es seine Gesundheit (die Magenschmerzen hatten wieder zugenommen).

*

Und Borer telefonierte frühmorgens sogar in Winkelrieds Büro. Er möchte ihn nochmals sprechen, sagte er, eine halbe Stunde genüge; er möge ihm bitte sagen, um welche Zeit es ihm möglich sei. Winkelried wurde wütend; er habe weiss Gott keine überflüssige Zeit, schimpfte er, aber dann nahm er sich zusammen (die Sekretärin hörte zu, schiesslich sollte er Abteilungsleiter werden!), und er vereinbarte in sachlichem Ton ein Rendez-vous über Mittag.

Der aufsässige Schnüffler erschien pünktlich, er zog ein Tonbandgerät aus seinem Ledertäschchen und bat Winkelried, ihm den Traum, den er laut Befragung vom 18. Juli am Nachmittag kurz vor Tellenbachs Sturz auf dem Balkon seiner Frau erzählt habe, was Winkelried ihm im Eifer der ersten Aufregung auch noch mitgeteilt hatte, auf das Tonband zu sprechen.

Winkelried war perplex. „Meinen Sie nicht, das geht doch etwas weit?“ fragte er den ihn undurchsichtig musternden Kriminalbeamten, „ein Traum ist etwas sehr Persönliches, sehr Intimes, und was soll ein Traum in den Akten einer kriminalistischen Untersuchung? Sie sind doch nicht Angestellter eines psychologischen oder psychiatrischen Instituts, oder? Die befassen sich mit Träumen, mit dem Unterbewussten…“

„Erzählen Sie nur ruhig, wir haben Schweigepflicht. Nichts dringt an die Öffentlichkeit!“ behauptete Borer.

„Gerichtsverhandlungen sind bekanntlich öffentlich“, widersprach Winkelried. „Falls es zu einem Mordprozess käme, würden solche Informationen doch auch publiziert! Aber da ich fest davon überzeugt bin, dass Tellenbach verunglückt ist, kann ich ja ruhig loslegen.“

Winkelrieds Tonfall war jetzt spöttisch geworden. Die Sache begann ihm nun doch langsam Spass zu machen.

„Erzählen Sie“, wiederholte Borer beharrlich.

Und Winkelried legte los.

*

„Entschuldigung“ meldete sich Borer, „erzählen Sie nun aus Ihrem Traum oder aus der Wirklichkeit?“

„Aus meinem Traum, wie Sie’s ja wollen!“

„Gut“, sagte Borer, „ich meine nur, weil Sie den Traum wie eine sorgfältig aufgebaute Geschichte erzählen. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Traum gehabt zu haben, wo solche ausführlichen Dialoge vorkamen. Träume setzen sich  doch meistens aus Bildern zusammen.“

„Ich erzähle Ihnen meinen Traum in Form einer Geschichte, einverstanden?“

„Gut, gut“, meinte Borer und paffte Winkelried den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht, „wichtig ist der Inhalt, nicht die Form. Wer aber ist José, sollen Sie das sein? Ich dachte, Sie heissen Sepp, oder Josef?“

„Meine Frau nennt mich José“, erklärte Winkelried.

„Und Elsbeth, eine Traumfigur oder eine wirklich existierende Person?“

„Beides“, sagte Winkelried, „soll ich nun weitererzählen?“

„Ja“, sagte Borer, „mit Willi ist, nehme ich an, Wilhelm Tellenbach gemeint.“

„Wo bin ich stehengeblieben?“

*

„Entschuldigen Sie“, unterbrach Borer erneut, nun ziemlich ungeduldig, „könnten Sie das Ganze nicht etwas straffen, das Wesentliche schildern? Sonst sitzen wir den ganzen Nachmittag hier, vielleicht noch abends! Und“, argwöhnte er ärgerlich, „ist es überhaupt möglich, sich an derart lange Dialoge aus einem Traum so genau zu erinnern?“

„Wie Sie wollen“, meinte Winkelried, inzwischen glänzend gelaunt und hochinspiriert; es freute ihn offensichtlich, dem Kriminalisten als Märchenonkel zur Verfügung zu stehen, und je ungehaltener Borer wurde, desto genüsslicher schien Winkelried mit seiner Erzählung auszuholen.

Wieder störte Borer. „Kürzer“, seufzte er, „bitte kürzer! Straffer! Das Wesentliche!“

„Es kommt gleich“, versprach Winkelried, „es wird Sie sehr interessieren, denn nun wird’s kriminalistisch!“

Borer, hin- und hergerissen zwischen seiner Neugier und dem unbehaglichen Eindruck, Winkelried würde ihn auf den Arm nehmen, nickte resigniert.

(Borer setzte zur Frage an, wer Elsbeth genau sei, aber er unterdrückte sie, wohl, um Winkelried nicht noch mehr zu Ausschweifungen zu ermutigen.)

*

„Stopp!“ befahl Borer, „es genügt!“ Er schaltete das Tonbandgerät aus und packte es in sein Mäppchen. „Kann ich telefonieren?“

Winkelried schob ihm den Telefonapparat hin.

„Bitteschön.“

Borer schien Winkelrieds Frau zu telefonieren, denn er sagte: „Guten Tag Frau Winkelried, ist mein Kollege, Herr Marti, noch bei Ihnen? Könnte ich bitte mit ihm sprechen?“

Nach einer kurzen Pause sagte er: „Hallo, Rolf, hat alles geklappt? Ja, bei mir auch. Herr Winkeklried hat mir den Traum ausführlich erzählt, die reinste Märchenstunde…“

Borer verabschiedete sich knapp und war schon aus dem Büro verschwunden. Winkelried riss die Fenster auf, dann trug er den überfüllten Aschenbecher zur Toilette, wo er Borers Hinterlassenschaft hinunterspülte. Zurück im Büro, telefonierte er Wilma und erfuhr, dass bei seiner Frau ein anderer Kriminalbeamter erschienen sei, der sie ebenfalls nach dem Traum befragt habe.

„Was hast du erzählt?“ fragte Winkelried.

„Nur das Wesentliche, ganz kurz“, sagte Wilma, „und du?“

„Eine ausgeschmückte Version – mit allem Drum und Dran. Ich kam mir wie die Gebrüder Grimm vor…“

Wilma lachte. „Dann hast du ihnen viel Material geliefert! Aber was soll das Ganze? Wieso interessieren die sich für Träume?“

„Träume sind Schäume, meinst du? Du vergisst die Tiefenpsychologie! Nein, im Ernst: Ich glaube, das Ganze ist viel banaler. Die wollten wahrscheinlich einfach feststellen, ob wir gelogen hatten, als wir aussagten, ich hätte dir kurz vor Tellenbachs Sturz einen Traum erzählt. Jetzt wollten sie überprüfen, ob wir das Gleiche erzählen. Wenn du einen ganz anderen Traum erzählt hättest als ich, könnten sie uns überführen…“

„Des Mordes?“ witzelte Wilma.

„Der Lüge. Und unser Alibi wäre nicht mehr glaubwürdig… Und dann würden wir weiter belästigt von diesem fürchterlichen Kettenraucher, der mein ganzes Büro verpestet hat!“

„Nein“, wusste Wilma, „der junge Kriminalbeamte, der mich befragt hat, sagte mir, Borer sei nur Ferienaushilfe; normalerweise würden sie ihn nicht mehr auf die Leute loslassen. Nächste Woche käme der Chef aus den Ferien zurück. Dann hätten wir es mit jemand anderem zu tun…“

Winkelried schien von dieser Botschaft nicht besonders beglückt zu sein. „Am liebsten wäre es mir, ich könnte meine Zeit wieder sinnvoller einsetzen als für solch unnötige Verhöre! Entschuldigung, jetzt muss ich aufhängen – ich habe noch nichts gegessen. In zwanzig Minuten ist die Mittagspause zu Ende. Alles wegen diesem Tabakgilb!“

Winkelried eilte hinaus zur nächsten Imbissecke. Ein erneuter Anfall von Magenschmerzen verhinderte, dass er das Sandwich zu Ende ass.

Aber am darauffolgenden Dienstag besuchte tatsächlich ein braungebrannter, ferienentspannter neuer Kommissar – ein Herr Jäger – Frau Winkelried und teilte ihr mit, dass die Untersuchung nun abgeschlossen sei und der Fall ad acta gelegt werden könne. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Tellenbach verunglückt, nicht ermordet worden sei. Auch Selbstmord werde ausgeschlossen.

„Entweder hat Borer so gute Ermittlungsarbeit geleistet, dass aufgrund seiner Unterlagen dieser Entscheid nun rasch gefällt werden konnte“, meinte Winkelried erleichtert, nachdem ihm seine Frau davon berichtet hatte, „oder er hat sich völlig unnötig ins Zeug gelegt…“

Eine Party für Herrn Vögeli

Von Felix Feigenwinter

Vor dem Eindunkeln sagte Frau Vögeli zu ihrem Gatten: „Bist du bereit, Matthias? Wir sollten endlich gehen!“

„Ach, diese Party“, antwortete Herr Vögeli, „ausgerechnet heute abend. Ich habe eigentlich gar keine Lust!“

„Heute vor zwanzig Jahren haben wir geheiratet“, rief Frau Vögeli in Erinnerung, und ihre Stimme klang bitter.

„Das ist allerdings ein Grund zum Feiern!“

„Eben“, bestätigte die Gattin, den Spott scheinbar ignorierend, „wir sind es Grafs schuldig. Schliesslich war Brigitte unsere Trauzeugin!“

„Muss man denn dauernd daran erinnert werden?“ meckerte Herr Vögeli, „und überhaupt, was hat das mit mir zu tun? Brigitte ist deine Freundin. Mich hat sie von Anfang an nie gemocht. Sie mäkelte schon damals an mir herum. Nein, ausgerechnet Brigitte… diese Nörgeltante!“

„Zwanzig Jahre muss ich das nun schon ausstehen, du Nörgelonkel!…So mach dich endlich fertig, das Taxi kommt gleich!“

„Ich bin ja fertig!“ brummte Vögeli.

„Die Badehose…hast du die schon an?“

„Die Badehose?!“

„Du hast doch selber gesagt, du möchtest schwimmen“, meinte Frau Vögeli; „da die doch einen Swimmingpool haben.“

„Nicht ich habe das gesagt…du hast es gesagt. Es war deine Idee!“

„Brigittes Idee. Eine gute Idee. Die Gäste können sich ein wenig erfrischen. Bei dieser Hitze! Weißt du noch, an der Party im letzten Sommer? Dein Sprung vom Balkon… das war eine Show!“

Der Dreiklang der Wohnungsglocke  unterbrach den ehelichen Dialog.

„Das Taxi!“ rief die Gattin. „Komm, sonst muss der lange warten!“

„Ich bin noch nicht fertig… muss noch die Badehose anziehen!“

„Mein Gott… welche Strafe, mit so einem Mann verheiratet zu sein! Ich warte unten im Taxi! Beeil dich!“

Gegen zwei Dutzend Gäste bevölkerten Grafs Villa. Der Hausherr fachsimpelte an der Hausbar im Keller mit Geschäftsfreunden, und während Herr Vögeli in die oberen Stockwerke stieg, fragte Frau Graf Susanne Vögeli im Foyer:

„Was ist mit deinem Mann? Der wirkt so… wie soll ich sagen? Ist was?“

„Der ist doch immer so!“ beruhigte Frau Vögeli, „es ist alles in Ordnung. Sogar die Badehose hat er mitgenommen!“

Im zweiten Stock, in Xaver Grafs Herrenzimmer, traf Mathias Vögeli einen älteren Gast. Er sass im matten Schein einer Ständerlampe aufrecht im Sessel einer Polstergruppe, ein leergetrunkenes Weinglas wie einen kostbaren Kelch in der Hand haltend.

„Herr Marti“, wurde ihm der gepflegte Herr vorgestellt, „ein Privatgelehrter. Er befasst sich mit Traumdeutung.“

Noch während sich Vögeli überlegte, wie er den Stoiker im Polstersessel zu einer Konversation bewegen könnte, bemerkte er, dass Martis helle Augen an ihm vorbei in den Raum hinter dem Türausgang starrten, wo nun auch Frau Graf und Susanne auftauchten.

„Gehen wir in den Garten? Vielleicht kommt doch kein Gewitter…“, hörte er Brigitte noch sagen; danach verschwanden die beiden Freundinnen auf der Treppe.

Vögeli wollte ihnen folgen, doch der Herr im Polstersessel rief ihn zurück.

„Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen“, sagte er unerwartet. „Sind Sie vermögend?“

„Nein“, bekannte Herr Vögeli, überrascht ob der Direktheit des Alten, „leider nicht. Überhaupt nicht.“

„Keine Lebensversicherung?“ forschte Marti.

„Doch“, stammelte Vögeli, „doch… eine Lebensversicherung. Sogar eine recht hohe. Die Prämien belasten uns. Meine Frau liess sich von einem Versicherungsvertreter überreden und hat mich so lange beschwatzt, bis ich die Unterschrift unter den Vertrag setzte.“

„Wer würde bei einem Ableben profitieren?“

„Wenn ich sterben würde?… Meine Frau natürlich.“

„Gut“, meinte Herr Marti, „gestatten Sie mir eine letzte Frage. Haben Sie eine Badehose mitgenommen?“

„Eine… was?“

„Eine Badehose.“

„Ja“, flüsterte Vögeli, noch immer verdattert über das rätselhafte Verhör, „ich habe sie angezogen, um vielleicht ins Bassin zu springen.“

„Vom Balkon aus, nehme ich an“, sagte Marti mit gedämpfter Stimme. „Ich hoffe, Sie haben starke Nerven, damit Sie verkraften, was ich Ihnen jetzt verrate. Sie begegneten mir gestern nacht im Traum – obwohl ich sie vorher noch nie gesehen hatte! Als Sie vorhin das Zimmer betraten, habe ich Sie sofort erkannt. In meinem Traum sprangen Sie vom Balkon in die Nacht; es war etwa so dunkel wir jetzt dahinten im Garten, wo ausser der Balkontür keine Hausöffnung Licht nach draussen wirft. Später lagen Sie, nur mit einer Badehose bekleidet, auf dem Rücken auf dem trockenen Bassinboden, mit starren Augen zwischen weit aufgerissenen Lidern, die Arme wie im Flug ausgebreitet. Plötzlich blitzte und donnerte es, und ein heftiger Regen setzte ein. Er prasselte auf Ihren fast unbekleideten Körper. Danach erwachte ich.“

Von draussen hörte man Stimmen, übertönt von Frau Vögelis Lockruf; sie war, wie die meisten Gäste um diese Zeit, wohl angetrunken:

„Matthias, wir sind hier im Garten! Zeig dich auf dem Balkon!“

Herr Marti erhob sich, durchquerte mit Vögeli das Herrenzimmer, und die beiden Männer erschienen auf dem Balkon, schattenhaft wie zwei Gespenster.

„Wie deuten Sie Ihren Traum?“ hauchte Vögeli, fassungslos in den finstern Garten starrend.

„Es war ein visionärer Traum“, murmelte Marti, „ein Warntraum…“

Seine Stimme wurde durch Susanne Vögelis erneutes Rufen übertönt: „Wo bleibt deine berühmte Show, Matthias?“

In diesem Augenblick erhellte ein Blitz für einen Moment den Garten.

„Schauen Sie ins Bassin!“

„Es ist leer… Sie haben mir das Leben gerettet!“ Er zog den Alten schaudernd ins Zimmer zurück.

„Für mich ist diese Erfahrung jedenfalls interessant“, meinte Marti trocken; „ich werde den Fall in meinem nächsten Buch über Traumdeutung erwähnen.“

„Sie schreiben ein Buch!? Wann kommt es heraus?“

„Im nächsten Herbst. Es ist fast fertig geschrieben – nur ein authentisches Beispiel für den visionären Traum fehlte mir noch. Dank Ihnen und dem deliktischen Paar da unten kann ich diese Lücke jetzt schliessen.“

„Deliktisches Paar?“

„Frau Graf und Ihre Frau“, erläuterte Marti. „Als ich die beiden Damen vorhin beobachtete, war mir der kriminalistische Aspekt meines Traums plötzlich glasklar.“

„Meine Frau hat zusammen mit Frau Graf meinen Sturz ins leere Bassin geplant, um das Verbrechen als Unfall zu tarnen?“ kombinierte Vögeli, und seine Worte wurden vom Donnergrollen aus der Ferne untermalt.

„Mord mit dem Ziel eines Versicherungsbetrugs, denke ich“, bestätigte Marti; „es wird für Sie in Zukunft wohl schwierig werden, das Leben an der Seite Ihrer Frau…“

„Es ist für beide seit zwanzig Jahren schwierig“, sagte Vögeli. „Trotzdem, ich werde Ihr Buch meiner Frau zum Geburtstag schenken. Es soll eine Überraschung sein. Daher bitte ich Sie, ihr ja nichts zu verraten!“

„Mein Interesse an der Traumdeutung ist rein wissenschaftlich“, lächelte jetzt Marti, „ich werde Ihre Frau sicher nicht anzeigen. Das müssten Sie schon selber tun. Versuchter Mord, kombiniert mit versuchtem Versicherungsbetrug – ein starkes Stück! Nur: ein visionärer Traum würde vor Gericht kaum als Beweis akzeptiert.“

Plötzlich setzte der Gewitterregen ein. Ein Blitz durchzuckte den Garten.

„Gehen wir hinunter“, schlug Marti vor, „niemand wird von Ihnen heute Nacht noch verlangen, dass Sie ins Bassin springen… bei diesem Gewitter!“

(Diese Geschichte erschien unter dem Titel „Die Badehose“ im Nebelspalter Nr. 40/1987)

Hexenfeuer

Von Felix Feigenwinter

Eines Sommerabends habe ein Mann oder Männlein – jedenfalls ein männliches Wesen – das Lokal betreten und sei keineswegs entschlossen, sondern zögerlich auf den Frauenstammtisch zugesteuert, sei dort stehengeblieben, habe herumgetruckst, bis es scheu, ein wenig linkisch eine der sieben Damen anzusprechen gewagt habe. Offenbar habe es gefragt, ob am Tisch noch ein Platz frei sei, was eine der Frauen (eine nicht mehr ganz junge, aber noch keineswegs alte, sondern lebhafte, heitere, blühende Dame) lachend mit temperamentvoll einladenden Gesten bejaht habe, worauf sich das etwas bekümmert dreinblickende, schmächtige Herrlein scheinbar verdutzt über den eigenen Mut inmitten der inzwischen bereits ausgelassenen Runde niedergelassen habe. Vorerst sei der kleine Mann noch etwas verloren dagesessen, bis ihm der Kellner den gewünschten Wein hingestellt habe. Danach sei der Fremde nach und nach aufgeblüht, habe das Palaver der lebensfrohen Weiber mit munterer Neugier verfolgt, mehrmals Wein nachbestellt, und er sei in die Unterhaltung immer mehr einbezogen worden. Ja, das anfänglich verklemmt, geradezu vergilbt wirkende Männlein habe sich im Verlauf des Abends zu einem brillanten Chauseur und Charmeur entwickelt. Etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht sei es inmitten des fröhlich palavernden Septetts aufgebrochen und habe, zusammen mit den Frauen, die ihm übrigens die Zeche bezahlt hätten, ein Taxi bestiegen.

Das alles sei umso erstaunlicher, als es sich beim Damenclub um eine Versammlung radikaler Feministinnen gehandelt habe, in deren Haus am Stadtrand sonst keinen Männern Einlass gewährt worden sei. Die sieben Sufragetten hätten sich bereits in mancherlei Hinsicht als Männerschreck profiliert, obwohl man es – und dabei handle es sich um seine ganz persönliche, gewissermassen private Meinung, zu der er aber jederzeit stehe – mit  durchaus attraktiven Damen zu tun gehabt habe.

So ungefähr schilderte mir, der ich zum erstenmal und rein zufällig in diese Quartierspelunke geraten war,  Hansjörg Graber, ein pensionierter Postverwalter, während er an jenem Abend im Restaurant „Diana“ in der Altstadt  mehrere Deziliter Rotwein trank, seine einstigen Beobachtungen aus dem sicheren Späheck am Jasstisch schräg gegenüber des runden Stammtisches, wo sich die sieben Frauen jeden Montagabend getroffen hätten, wie Graber weiter erzählte.

An seinem Arbeitsort, so spintisierte der weinselige Rentner weiter, hätten die Postangestellten ihre Köpfe zusammengereckt und über das Verschwinden des geheimnisvollen Fremden spekuliert, der seither in der Stadt nie mehr gesichtet worden sei. Schliesslich hätte ein Gerücht sowohl am Jasstisch als auch im ganzen Quartier die Runde gemacht: Danach hätten die sieben Frauen den Zwerg verhext und in ihrem Haus auf unsägliche Weise missbraucht, ja, schliesslich  gar ermordet, wobei schauerliche Details nur andeutungsweise und hinter vorgehaltener Hand zur Sprache gekommen seien. Ein anderes Gerücht verbreitete die unbehagliche Nachricht, der Fremde sei in Wahrheit ein Hexenmeister, ein listig getarnter, unheimlicher Zauberzwerg gewesen, der zusammen mit den Frauen Unheilvolles ausgeheckt und das Quartier, ja die ganze Stadt habe ins Verderben stürzen wollen.

So sei es nur zu verständlich gewesen, dass sich bald kein Briefträger mehr gefunden hätte, der das Hexenhaus  habe aufsuchen wollen, um die dorthin adressierte Post  abzuliefern. Die Briefe und Pakete  seien im Postkeller gesammelt und jeden Monat bei Vollmond im Hinterhof des Postgebäudes verbrannt worden, wobei die Flammen, welche die Hexenpost habe vertilgen müssen, von Monat zu Monat heftiger gelodert hätten; das Ritual habe zusehends mehr Zuschauer angezogen.

Ein wahres Höllenfeuer aber hätten die Quartierbewohner in einer Vollmondnacht im darauffolgenden Frühling erlebt: Allen sei sofort klar gewesen, dass es sich nicht um das rituelle Postvernichtungsfeuer habe handeln können, allzu wild seien die Flammen am Rande der Altstadt in den Maihimmel gelodert. Das Haus der sieben Frauen habe lichterloh gebrannt, und nachdem das Inferno von der Ortsfeuerwehr endlich habe gelöscht werden können, habe von ihren Bewohnerinnen jegliche Spur gefehlt. Ein Zeuge habe sie auf Besen durch die Luft schiessen und im nahen Buchenwäldchen entschwinden sehen. In der Asche des ausgebrannten Gebäudes habe man die verkohlten Reste eines kleingewachsenen Mannes gefunden, bei dem es sich nach Ansicht der Untersuchungsbeamten um den Brandstifter gehandelt habe.

Erst viel später – der pensionierte Postverwalter, der mir diese grausliche  Geschichte vor einigen Jahren weintrunken erzählt hatte, war inzwischen verstorben – , fanden Bauarbeiter im Garten des niedergebrannten Hauses, wo nun ein Gebäude für die städtische Verwaltung gebaut werden sollte, die Skelette von sieben beerdigten Frauenleichen, wie ich von der Wirtin des Restaurants „Diana“ erfuhr, nachdem  ich wieder einmal in dieser Pinte, wo ich nie zu den Stammgästen gehörte,  eingekehrt war. Seither würde der grosse runde Stammtisch, wo früher die sieben Frauen jeweils gefeiert hätten und wo  einst der rätselhafte Zwerg auf sie getroffen sei, in jeder Vollmondnacht  zum Andenken an diese Frauen mit sieben Flaschen Wein und sieben Gläsern gedeckt und mit sieben Kerzen und  einem grossen Blumenkranz geschmückt. Einen Tag und einen Abend lang dürfe sich dann kein Gast  an diesem Tisch niederlassen, berichtete die Wirtin weiter, die übrigens einen durchaus bodenständigen Eindruck hinterliess und beteuerte, sie habe den ominösen Zwerg mit eigenen Augen gesehen.